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Andreas Weber „Lasst sie raus!

Gewinner des Deutschen Reporterpreises 2010 in der Kategorie Essay.

Lasst sie raus



Andreas Weber, Geo, 07.06.2010



In den Osterferien vor zwei Jahren begann ich mit den Kindern unserer Berliner Straße ein Experiment. Das Wetter war blendend. Die Aprilsonne hatte die Buschwindröschen hervorgetrieben und den Ahorn am Rand der kleinen Wildnis hinter dem Haus seine Knospen öffnen lassen. Meine Tochter Emma, 6, und mein Sohn Max, 9, langweilten sich zu Tode. Sie stritten sich, sie prügelten sich, sie lungerten schlechtgelaunt in meinem Arbeitszimmer. Wenn ich die beiden fortschickte, zankten sie sich mit ihren Freunden darum, wer länger mit deren neuer Playstation spielen durfte. Es war sommerlich warm, es waren Ferien, und es war nicht auszuhalten.

Ich entsann mich solcher Urlaubsqualen aus meiner eigenen Kindheit. Aber ich glaubte mich zu erinnern, dass wir sie immer irgendwann bewältigt und dann die Zeit mit Unternehmungen gefüllt hatten, an die ich bis heute zurückdenke: Wir hatten ein Fort auf dem hohen Stumpf einer Weide gebaut. Wir hatten eine Raumstation aus Schnee-Iglus errichtet. Wir hatten Schneckenrennen organisiert. Wir hatten einen echten Gemüsegarten angelegt. Wir waren in eisiger Abendröte vom Schlittschuhteich zurückgekehrt.

Wir – das heißt ich und die Nachbarskinder, die ebenfalls überdrüssig auf dem Klettergerüst des Spielplatzes saßen. 30 Jahre später ging mir auf: Für Max und Emma gab es keinen solchen Sammelplatz. Ihre Freunde sind eigentlich überhaupt nicht mehr draußen. Zur Probe schaute ich aus dem Fenster über die Straße und die Wiese dahinter. Leere.

Wer durch die Felder des ländlichen Berliner Bezirks wandert, in dem wir wohnen, begegnet nicht nur fast keinen Schmetterlingen mehr. Er trifft auch kaum ein Kind. Anders als noch in den 1970er Jahren scheinen heute Kinder, die draußen Abenteuer erleben, die sich schmutzig machen, sich Ratscher holen eine aussterbende Spezies zu sein.

Eine Fülle von Studien belegt: Der Aktionsradius unserer Sprösslinge verlagert sich zunehmend auf das Hausinnere. Das Gebiet, in dem sie auf eigene Faust umherstreifen dürfen, hat sich in drei Jahrzehnten so verkleinert, als lauerten Heckenschützen hinter jedem Müllcontainer. Vor allem kommen Kinder immer seltener in Kontakt mit der Natur. Eine schleichende Krankheit scheint unseren Nachwuchs befallen zu haben, und sie steckt auch jene an, die wie Max und Emma hektarweise Freiraum zur Verfügung haben: Felder zum Drachensteigen. Gräben zum Fröschefangen. Seen zum Angeln. Bäume zum Klettern. Bombentrichter im Wald, kurz: eine Welt wie sie Tom Sawyer erlebte.

Der stille Abschied der Kinder von der Natur kann nicht ohne Folgen bleiben. Im Gegenteil - mit dem Schwinden des ungezügelten Spiel im Freien droht den jungen Menschen etwas Unersetzliches verloren zu gehen: die Möglichkeit, ihre seelischen, körperlichen und geistigen Potentiale so zu entfalten, dass sie zu erfüllten Menschen werden.

Gehirnforscher teilen diese Meinung. Die Gegenwart der Natur und das Spiel in ihr sind zwingend notwendig, um die emotionalen, aber auch die kognitiven Bedürfnisse heranwachsender Menschen zu befriedigen. Wird ihnen die Freiheit verwehrt, von Erwachsenen unkontrolliert in einer von selbst gewordenen – nicht einer künstlich gefertigten – Welt Erfahrungen zu machen, können Kinder zentrale Fertigkeiten kaum noch entfalten. Ohne seelische Nähe zu Pflanzen und Tieren verkümmert ihre emotionale Bindungsfähigkeit, schwinden Empathie, Fantasie, Kreativität und Lebensfreude.

Gefahr war also im Verzug. Ich schritt zur Tat – was erforderte, dass ich zunächst über meinen eigenen (riesigen) Schatten sprang. Ich rief meinen Sohn. „Wollt Ihr nicht ein Baumhaus bauen?“ „Ein Baumhaus? Wo denn?“ „Irgendwo. Sucht Euch einen Platz. Nehmt Euch alles Holz im Schuppen.“ „Echt? Alles?“ „Ja. Und Ihr könnt das Werkzeug benutzen.“ „Auch die Säge?“ Mein Sohn war, wie erwähnt, neun Jahre alt. „Ja.“ „Auch den Vorschlaghammer?“ Ich atmete durch. „Ja. Alles.“ Ich gab ihm den Schlüssel. „Raus. Haut ab.“


Vorsicht, Falle: Die Sorge der Eltern engt Spielräume ein

Wie dramatisch das Recht von Kindern gezügelt wurde, draußen in Freiheit herumzustreifen, zeigt das Beispiel von vier Generationen einer Familie im britischen Sheffield. Der Urgroßvater war in den 1920ern im Alter von acht Jahren zehn Kilometer zu seiner Lieblings-Angelstelle marschiert. Sein Schwiegersohn durfte nach dem Krieg, gleichermaßen achtjährig, durch den anderthalb Kilometer entfernten Wald streifen. Auch zur Schule ging er allein. Dessen Tochter stand es in den 1970er Jahren immerhin frei, mit dem Rad durch die Nachbarschaft zum Schwimmen zu fahren. Ihr eigener Sohn jedoch, ebenfalls acht, darf sich allein nur bis ans Ende der Straße bewegen – und wird mit dem Auto zur Schule kutschiert.

Fragt man Eltern, warum sie ihren Kindern das Leben bis zur Erfahrungstaubheit erleichtern, so lautet die Antwort meist: Angst. Angst, dass die Kleinen sich beim Toben im Freien verletzen. Angst, dass sie entführt werden. Und vor allem Angst, dass ihnen im Verkehr etwas zustoßen könnte. 1971 durften zwei Drittel der deutschen Sieben- bis Elfjährigen auf der Straße Rad fahren. Knapp 20 Jahre später gestatteten Eltern das nur mehr einem Viertel dieser Altersgruppe. Ohne Widerstand nehmen Familien die Enteignung des öffentlichen Raums durch Autos und Lastwagen hin. Statt sich in die Verkehrspolitik der Kommune einzumischen, entfernen Eltern ihre Kinder von Wegen, die für alle da sein sollten.

Und wie Reisende mit Flugphobie entwickeln Erwachsenen oft auch dort Panik, wo kaum Gefahr besteht. Kindesentführungen – so entsetzlich sie sind – bleiben Einzelfälle, von denen sich in Deutschland keine Handvoll im Jahr ereignet.

Je weniger Kinder in einer Gesellschaft heranwachsen, umso größer scheint der Wunsch, sie zu behüten. Stärker noch als vor einer Generation hat sich heute die Mentalität durchgesetzt, die – guten wie schlechten – Wechselfälle des Lebens nicht als Schicksal zu betrachten, sondern als Erfolge oder Misserfolge, für die man verantwortlich ist. In der steten Beschleunigung, die uns alle erfasst, wächst die Gefahr, ein Kind als „Projekt“ zu betrachten. Tätigkeiten, wie das Draußenspielen gelten als aufschiebbar, als nicht prioritär, so wie ebenfalls oft die elterliche Zeit und Zuwendung, nach dem Motto: „Sicher, gleich, Liebling.“

Dazu kommt: Zeitfressende Elektronik wie Spielekonsolen und Handys kann sich inzwischen jeder leisten. Der US-amerikanische Natur-Aktivist Richard Louv, Autor des Buches „Last Child in the Woods“, das den Naturmangel der Kinder zum ersten Mal einem größeren Publikum ins Bewusstsein rief, hört bei Gesprächen mit Kindern oft solche Antworten: „Ich spiele lieber drinnen, denn da gibt es Steckdosen.“

Derartige Bequemlichkeit findet unbewusste Unterstützung bei Eltern, die im Unberechenbaren der Natur und des selbstbestimmten Kinderspiels Gefahr wittern. Sie selbst gruseln sich vor Zecken, vor dem Fuchsbandwurm, vor herabfallenden Ästen. In den USA werden auf manchen Spielplätzen Schaukeln und Rutschen entfernt – sie gelten als zu gefährlich.

Aber es ist gerade das Unvorhersehbare, das Kinder beim Spiel im Freien fasziniert. Es gewährt ihnen Freiheit – und somit die Reifung zur eigenständigen Persönlichkeit. Sein Fehlen engt die kindliche Existenz ein, und das, obwohl die Eltern beste Vorsätze hegen. Cellostunden hier, ein Judo-Kurs da, Fechten auf Englisch, Nachhilfe von Muttersprachlern – all diese <I>Enhancer<I> sollen dem Nachwuchs einen Platz im ersten Rang der Welt-Wettbewerbsgesellschaft garantieren.

Zuviel Kontakt mit der Wirklichkeit, der auch Scheitern und Schmerz beinhalten kann, lässt diese durchorganisierte Matrix zusammenbrechen. Also geht man ihm besser aus dem Weg. Noch 1990 gaben hierzulande fast drei Viertel aller Kinder zwischen sechs und dreizehn Jahren an, sich täglich im Freien herumzutreiben – 2003 waren es schon weniger als die Hälfte. Mehr als 50 Prozent der britischen Sieben- bis Zwölfjährigen ist es verboten, ohne Aufsicht auf einen Baum zu klettern oder im Park um die Ecke zu spielen, einem Drittel sogar auf der Straße vor dem Haus. Drei von vier Kindern aber dürfen allein im Internet surfen.

Mit bester Absicht haben wir Erwachsenen uns der kindlichen Erfahrungsräume bemächtigt. Wir kaufen TÜV-geprüfte Spielhäuser im Baumarkt und transportieren unsere Kinder mit dem Wagen zum Fußball - statt sie einfach in die Freiheit hinauszuschicken. Wir scheinen die Glanzmomente unserer eigenen Kindheit allesamt vergessen zu haben, jene Sommerabende etwa, an denen es nicht dunkel werden wollte, und wir mit einer aufgekratzten Freundesschar Stunden ohne jede Aufsicht im Freien herumstromerten.


Mein Sohn verschwand also mit dem Schuppenschlüssel und seiner carte blanche zum Abenteuer. Als ich aus dem Fenster blickte, beluden Max, Mustafa, Manuel und Nikolas die Schubkarre mit Latten. Dann waren sie fort. Ich sah meinen Sohn in den folgenden Tagen selten. Er verschwand schon vor dem Frühstück im Brachwäldchen aus Birken, das sie sich ausgesucht hatten, um ihr Fort zu errichten. Sie gruben und hämmerten, sie nagelten Dachpfetten und montierten Stützbalken. In dem typischen Berliner Ödlandforst fand sich genug alte Plastikfolie, um das Dach ihrer Hütte regenfest zu machen.

Auch die Mädchen schraubten und sägten, sammelten, scharrten und dekorierten. Die Kinder wurden eine Horde, ein Stamm. Sie ernteten Pflanzenteile als „Spielessen“ im Unterholz und sie picknickten mit Keksen. Schnell hatte sich eine gegnerische Gruppe gebildet, die ihnen Bauteile klaute. Krieg der Knöpfe! Playstations und iPodtouchs waren vergessen, als hätte ein gigantischer Überspannungsimpuls die Kleingeräte zu totem Material degradiert. Das Wundpflaster, dessen Vorrat ich innerlich mehrfach überschlagen hatte, blieb in der Schublade. Es gab nicht eine einzige Schramme.

Doch dann klebte eines Morgens ein Zettel am Brettergewirr im Wald, vor dem die Kinder am Abend zuvor ordentlich gefegt hatten. Es sei „Anzeige erstattet worden“. Mein Sohn kam aufgeregt nach Hause gelaufen. „Papa, die Polizei ist da!“ Es war das Ordnungsamt. Vor der Hütte die Kinder, zum Pulk zusammengeschart. Die Beamtinnen waren dabei, rot-weißes Flatterband um das Fort zu spannen: Tatort. Betreten verboten. Sonst sofortige Strafverfolgung.

Ich versuchte, den Damen die Sachlage zu erklären. Appellierte an ihre Herzen, selber Mütter, vielleicht? Aber nein, der Tatbestand war klar. Das Brachland mit dem Plastikmüll galt als Landschaftsschutzgebiet. Die Spielenden hatten die von den amtlichen Baumfällern mit Farbe markierten Birken verletzt. Ich versuchte es bei der Leitung des Grünflächenamtes. Hier gab man sich jovial. Ich ahne ja nicht, was bei ihnen los gewesen sei. Sie hätten seit Tagen diskutiert, wie mit der in keiner Ausführungsvorschrift verzeichneten Baumhütte zu verfahren sei. Es hätten sich zwei Fraktionen gebildet, die eine für die Kinder, die andere fürs Prinzip.

Das Prinzip hatte gewonnen.

Die Kinder trollten sich. Die Horde zerfiel, als hätte jemand mit einem Reagenz eine Fällungsreaktion eingeleitet. Jungs und Mädchen liefen auseinander wie Öl und Wasser. Max war den ganzen Nachmittag verschwunden. Abends wirkte er gereizt und müde. Er hatte bei einem Freund ferngesehen, einen Haufen Folgen „Alarm für Kobra elf“ mit ordentlich Geknalle und Gemetzel.


Natur-Entzug bestraft der Körper - mit Krankheiten und ADS

Es scheint, dass wir Erwachsenen vor lauter gutem Willen das Ziel unserer Erziehung aus den Augen verlieren. Brutal formuliert, quälen wir unsere Kinder, eingesperrt auf den Rücksitzen rundum mit Airbags gepolsterter SUVs, schon vom Kindergarten an durch immer strenger getaktete Leistungsinstitutionen, um und sie fit zu machen für das Leben. Dabei nehmen wir ihnen gerade die Möglichkeit, zu erfahren, was das ist: Leben. Wir stehlen ihnen die Lebendigkeit. Viele Kognitionsforscher halten das für eine zentrale Ursache in der Misere der Kinder und Jugendlichen.

Denn mit derselben Schnelligkeit, mit der die Wildnis aus der Psyche unserer Kinder schwindet, steigt die Häufigkeit ihrer seelischen Krankheiten. Dem Freiburger Psychologen Wolfgang Bauer zufolge leidet ein knappes Sechstel aller Kinder an Depressionen, Angst- und Essstörungen; jedes fünfte Kind quält sich mit dem Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom ADS durch die Schule. Diese Leiden werden aber kaum mit einer erhöhten Dosis von Selbstbestimmung therapiert, sondern vornehmlich durch Drogen: Von 2005 und 2008 stieg die Zahl der Verschreibungen des ADS-Mittels Ritalin um ein Viertel.

Dabei müssten wir nur hinsehen um zu begreifen, was Kinder brauchen. Sie zeigen ihren angeborenen Suchinstinkt nach der Natur und nach der Nähe anderer Wesen im frühesten Alter.


Ich erinnere mich, wie ich an einem Frühlingstag mit meiner Tochter Emma durch tauschweres Gras stapfte. Sie war früh aufgewacht, und ich hatte sie schnell eingepackt und war nach draußen gegangen. Der schüttere Apfelbaum, den niemand mehr pflegte und dessen verkrümmte Früchte keiner aß, war mit weißen Kelchen überzogen, aus denen lange Staubfäden wuchsen wie geöffnete Wimpern.

Der Baum schlug gewissermaßen die Augen auf. Emma hatte ihre Augen vor weniger als einem Jahr aufgeschlagen. Nun schaute sie daraus auf eine Natur, in der das Leben ebenfalls gerade neu begann. Als wir den Baum erreichten, begann ein Rotkehlchen sein schüchternes Flöten. Emma hob ihren Kopf und blickte hinauf. Ein breites Kleinkindlächeln überzog ihr Gesicht und jauchzend deutete Emma mit dem Finger nach oben, in die Sternenwolken der Blüten. Sie ruckte in meinen Armen, als könne auch sie dorthin emporsteigen, woher der Gesang herabwehte.

Wenn Kinder sprechen lernen, so lallen sie nach den Wörtern für Mama und Papa am ehesten Tiernamen – etwa Hund, Katze, Ente, Pferd, Bär, Vogel, Kuh. Obwohl manche Kinder heute noch nie einen echten Fuchs, eine echte Fledermaus, eine echte Schlange gesehen haben, verfolgen animalische Charaktere die Kleinsten bis in ihre Träume. 85 Prozent aller Geschichten, die Drei- und Fünfjährige erzählen, sind von Kreaturen bevölkert. Drei Monate alte Babies wenden sich bevorzugt Bewegungsreizen zu, die von lebenden Wesen, nicht von Automaten, stammen. Und ein Säugling krabbelt, wenn man ihm die Wahl zwischen einem wirklichen Kaninchen und einer Holzschildkröte lässt, hartnäckig auf das echte Tier zu.


Kinder und Tiere - seit Urzeiten unzertrennliche Gefährten

„Animalische Charaktere sind das Rohmaterial, aus dem Kinder ein Gefühl für ihr Selbst konstruieren“, meint die US-amerikanische Entwicklungspsychologin Gail Melson. Und das in allen Kulturen zu allen Zeiten: Das älteste erhaltene Spielzeug ist eine bronzezeitliche Tonrassel, besetzt mit Fuchsköpfen, Vögeln, Hunden und hölzernen Krokodilen, 1000 Jahre vor Christus in Ägypten gefertigt.

Melson glaubt, dass kleine Kinder Tiercharaktere in ihrem Denken ähnlich einsetzen wie Jäger-und-Sammler-Kulturen ihre animalischen Totems – als sichtbare Manifestationen von unsichtbaren Gefühlen und Beziehungen. Die Träume der Kleinen, die von Tieren wimmeln, sind für Melson Rückblenden in eine prähistorische Vergangenheit – in die Zeit also, in der wir in unserer Eigenart als Menschen entstanden.

Gerade weil diese Symbole aus einer Tiefe unserer Psyche stammen, auf die wir kaum Zugriff haben, könnten sie für die innere Entwicklung unentbehrlich sein. Anders gesagt: Unsere Kinder werden als „Urmenschen“ geboren, mit allen kognitiven Fähigkeiten, eine gesunde Identität inmitten einer Welt aus belebten Akteuren zu entwickeln. „Tiere sind nicht nur gut zum Essen“, pflegte der französische Anthropologe Claude Lévi-Strauss zu sagen, sondern vor allem „gut zum Denken“.

Wer Kinder beobachtet, sieht, dass zwischen ihnen und anderen Lebewesen ein intuitives Band gespannt ist. Kinder sind süchtig nach Tieren, so sehr, dass sie regelmäßig zu Tieren werden. Seit frühester Kindheit nimmt mein Sohn Max die Gestalt anderer Wesen an. Einmal, er war drei Jahre alt, floss er als zahmer Python in den Keller hinab, um eine Flasche Mineralwasser heraufzubringen. Es dauerte sehr lange, aber sie blieb heil.

Man könnte sagen: Tiere, Zaubertiere, alle Wesen, in die man sich in der Fantasie verwandeln kann, üben eine Form von weißer Magie aus. Ein Kind nutz den fremden Körper als Vehikel der Verwandlung: Lass dich auf die Knie herab, und du besitzt alle Kräfte, die du in deiner eigenen Tiefe ahnst. Im Spiel zum Tier zu werden, verleiht Einsicht in die Möglichkeiten der Existenz: Ein Tiger etwa ist die Muskel und Statur gewordene Kraft, ein Delfin verkörpert eine Form von Harmonie, hinter der all unsere Schöpfungen zurückbleiben.

„Uns ist eine tiefe emotionale Verbundenheit zu anderen Lebewesen angeboren“, meint der berühmte US-amerikanische Biologe Edward O. Wilson. Unsere Kognition ist von „Biophilie“, der Liebe zum Lebendigen, bestimmt. Der Mensch hat sich in Jahrmillionen als Teil der Ökosphäre entwickelt und durch sie denken und fühlen gelernt. Das werdende Hirn stützt sich demnach in ähnlicher Weise auf die kognitiven Bausteine einer belebten Welt, wie etwa das Knochenwachstum von der Verfügbarkeit von Kalzium abhängt. Solche elementaren Nährmaterialien durch naturidentische Inhaltsstoffe zu ersetzen mag irgendwie funktionieren, aber es bedeutet für die heranwachsende Seele dauernden Stress.

Dass Kinder sich der Natur zunehmend entfremden, hat somit das Potential einer zivilisatorischen Katastrophe. Denn wer soll die Natur, deren Sauerstoff uns atmen lässt, deren Kohlehydrate und Proteine uns nähren, künftig bewahren, wenn Kinder nicht mehr wissen, dass das Netz des Lebens Teil ihrer selbst ist?


Von der Natur so viel als möglich zu bewahren, ist somit ein Gesundheitsprojekt. Und in der Tat wirkt die Gegenwart anderer Wesen als universelles Entspannungs- und Vitalisierungsmittel – besonders für Kinder. Bei Schülern, die öffentlich laut etwas vortragen, senkt etwa die bloße Anwesenheit eines Hundes die Aufregung, messbar an der Pulsfrequenz. Kinder, die mit ihrem Tierkumpan viel Zeit zubringen, sind weniger ängstlich und zurückgezogen als der Durchschnitt, ihre Beliebtheit ist größer und sie zeigen signifikant mehr Mitgefühl.

Hunderte von Studien beweisen in seltener Eindeutigkeit: Natur spendet Kindern Lebenslust. Und doch hat die gängige Psychologie diesen Zusammenhang ausgeklammert. In ihren Modellen ist bis heute allein von menschlichen Beziehungen und deren Störungen die Rede. Der in der Pädagogik nach wie vor einflussreiche Entwicklungspsychologe Jean Piaget etwa tat die kindliche Naturbesessenheit als infantilen „Animismus“ ab. Seiner Meinung nach fantasieren Kinder bis zum Alter von sieben Jahren alle Objekte als lebendig. Die Schule müsse ihnen folglich beibringen, dass es sich bei Tieren um biologische Automaten handle. Für den Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud, stand jedes Angerührtsein durch die Natur unter dem Verdacht, als „ozeanisches Gefühl“ Symptom ungelöster neurotischer Fantasien zu sein.

Dass Kinder seelische Bedürfnisse haben, ohne deren Erfüllung sie zugrunde gehen, ist heute jedem bewusst. Säuglinge, die nicht regelmäßig berührt werden, verkümmern und können sterben. Für das heranwachsende Selbst eines Kindes sind Vater und Mutter körperliche und seelische Spiegel, ohne die der Säugling nicht lernt, dass er selbst ein ebensolches menschliches Subjekt ist wie seine Eltern es sind.

Die Natur gewährt dem Kind eine ähnlich identitätsstiftende Bindung. So wie Kinder ihr Modell von Menschlichkeit von jenen übernehmen, die sie lieben, so übernehmen sie von anderen Lebewesen das Gefühl gelingender Lebendigkeit. Andere Wesen, ja selbst Flüsse, Steine und Wolken lehren die Kinder eine Form der Selbsterkenntnis, die sie in einer allein menschengemachten Welt nicht erwerben könnten.

„Unser Hirn ist ein Beziehungsorgan“, sagt der Göttinger Neurobiologe Gerald Hüther. Das Gehirn wächst und stellt neue Verbindungen her, wenn ein Kind Erfahrungen macht. Je komplexer die Umgebung, je vielfältiger die Beziehungen, die es in ihr eingehen kann, desto intensiver das kognitive Wachstum. Und bei jeder neu gebahnten Nervenverbindung schüttet das Gehirn beglückende Botenstoffe aus. „Leben ist ein erkenntnisgewinnender Prozess“, zitiert Hüther den Verhaltensforscher Konrad Lorenz. „Und je verschiedener ein Gegenüber ist, in dem sich ein Kind bei diesem Prozess spiegeln kann, umso vollständiger wird das Bild von sich selbst, umso tiefer geht die Selbsterkenntnis.“

Der amerikanische Kognitionspsychologe Gregory Bateson vergleicht das Gewebe der Natur mit dem Beziehungsgeflecht im Hirn: Hier wie dort gibt es eine unendliche Zahl von Verbindungen, die eine unermessliche Vielfalt hervorbringen. Indem Kinder die ökologische Vielfalt mit allen Sinnen erleben, vermehren sie die Verflechtungen in ihrem Teil dieser Beziehungsökolgie – nämlich im eigenen Hirn. Sie erfahren die Natur quasi als Außenseite des eigenen Denkens und Fühlens – als einen geistigen Beziehungskosmos, der sich ihnen als berührbar und veränderbar offenbart.

Einem solchen Gegenüber begegnet das Kind nicht in künstlichen Objekten. Es findet es nur in der Natur, die geworden ist, nicht gemacht, die aus Wesen besteht, welche zu leben begehren und sterben können wie es selbst, die ein dichtes Netz von sinnvollen Verbindungen aufgebaut haben, nach denen auch das Kind fahndet. Die Natur – und sei sie so klein wie das Brachland einer Baulücke – ist eine lebendige Landschaft, in der sich zeigt, „dass das Große neben dem Kleinen wächst, das Morsche neben dem Vitalen“, wie Hüther es ausdrückt. Das sind die Urkonstellationen der Lebendigkeit.


Die Schule verschärft die Probleme statt sie zu lindern

Unsere Schulen schaffen es selten, diese Erfahrungen zu ermöglichen. Sie beschränken sich auf das Verabreichen von Informationen – unter einem Druck, der sich nach dem Schock von PISA nicht gemildert, sondern verstärkt hat. Dabei blockiert der Lernstress das wilde Denken unserer Kinder und hindert sie daran, zu sich selber zu kommen. Der US-amerikanische Lehrer und Bildungskritiker David Sobel formuliert das Resultat drastisch: „Unsere Schule lehrt die Kinder, das Leben zu verachten“.

Dabei bemühen sich viele Lehrer nach Kräften, die Natur in den Unterricht einzubetten und Schüler für deren Zerstörung zu sensibilisieren. Doch gerade das führt zu einer grotesken Abspaltung: Im Schulzimmer behandeln Kinder und Jugendliche den Aufbau anderer Lebewesen, als wären diese elektrische Maschinen, und sie lernen, die Größe ihres eigenen CO2-Fußabdrucks mathematisch zu berechnen. Sollten sie aber einmal ihren Fuß in ein Stück Wildnis setzen, so weisen Verbotsschilder – etwa in Nationalparks oder an Dünenküsten – sie darauf hin: „Auf den Wegen bleiben! Nicht berühren!“

Für viele ist Natur zu einem Museum geworden, zu einer langweiligen Erwachsenen-Angelegenheit. Man macht Natur bloß kaputt, wenn man sich ihr nähert – etwa wenn man nachmittags dort spielen geht und vielleicht einen Baum verletzt. (Dann kommt das Ordnungsamt.)

Natur löst sich heute in Inseln auf, die nichts mehr miteinander und vor allem nichts mehr mit dem Kind zu tun haben: die niedlichen Comicgestalten von „Ice Age 2“, die bösen Schweinegrippeviren, die geschützten Braunkehlchen im Biotop, dem man gefälligst fernbleiben soll. Was Kinder dabei unterdrücken lernen, ist ein vitaler Teil ihrer selbst, ihrer Lebendigkeit, die auch Baum ist, der wächst, die der fliegende Schwung ist, mit dem man sich von einer Nordseedüne ins weiche Nichts stürzt.

Heute spulen intelligente Grundschüler routiniert Zahlen zu Regenwaldverlusten und Ölkatastrophen ab. Unter ihrer rationalen Nüchternheit sind sie möglicherweise tief verwundet: Das größte Geschenk wurde ihnen schon entrissen – die Sicherheit nämlich, dass in diesem Kosmos immer das Leben siegt. Es ist wie mit Traumaopfern, die gelernt haben, ihre seelische Katastrophe in gefasste Worte zu kleiden, unter denen die unberührbare Wunde eines namenlosen Verlustes schwärt.

Ohne es böse zu meinen, verstärkt unsere Bildungspolitik dieses Verhängnis. Lehrpläne stanzen technokratische Leerformen: „Das Fach Naturwissenschaften trägt dazu bei, dass die Schülerinnen und Schüler sich in unserer durch Technik und Naturwissenschaften geprägten Gesellschaft zurecht finden und aktiv daran teilhaben können“, heißt es etwa im Berliner Lehrplan. Natur? Lebendigkeit? Gefühle? All das spielt in diesem Bildungsprogramm eine Nebenrolle. Biologie- und Sachkundelehrer sind – oft gegen ihren Willen – zu Verbündeten einer Weltsicht geworden, die alles Lebendige in den Begriffen der toten Materie erklärt. Entsprechend ziehen die Lehrer es vor, den Unterricht im KLassenraum abzuhalten, selbst wenn die Schule (wie die in unserem Stadtbezirk) von hinreißender Natur geradezu überwuchert wird.

Die Gebäude spiegeln diese Sicht wieder: Schulen gleichen weiträumig Fabrikanlagen, Kasernen und Abfertigungshallen. Pausenhöfe sind keine Wildnisareale, sondern effizient gestutzte Rasenflächen oder trostlos asphaltierte Einöden. Ihr Design folgt nach wie vor der Devise, dass sich Wissen aus der Welt abspalten und in neutraler Umgebung vervielfältigen lässt. Die Praxis hat das längst als Illusion entlarvt: In Schulen, die in ihren Anlagen nicht auf Fließbandordnung sondern auf Wildwuchs setzen, ist der Lernerfolg der Schüler messbar höher.

Nur wenige Lernanstalten haben diese Befunde zu ihrem Leitbild gemacht und füllen nicht nur ein paar Stunden in Randlage mit Naturthemen, sondern widmen ihr Curriculum radikal um. „Entschulung“ statt Druck: Eines der seltenen Pionier-Institute ist die „Freie Naturschule Blankenfelde“ im Berliner Randgebiet. Hier etwa lernen die Kinder noch vor dem Lesen das Entziffern von Tierspuren. Den meisten fällt die Umstellung aufs Leben im Freien zunächst schwer – dann aber wollen sie am liebsten sogar draußen schlafen, sagt der Wildnispädagoge Bastian Barucker.

Noch sind solche „Lebensschulen“ rare Ausnahmen. Normal ist eine der Sucht nach Beherrschbarkeit geschuldete Ödnis. Jüngst fragte ich eine Betreuerin in Emmas Schulhort, warum die Kleinen immer auf dem mit Kunstgras belegten Sportplatz spielten, und nicht im wunderbar verwunschenen Wald dahinter, der zur Schule gehört. „Dort sehen wir nicht, wenn sie sich verletzen“, erhielt ich zur Antwort. Das elterliche Herz gab sich beruhigt. Die „versicherungsrechtliche Gründe“ vorschiebende Pädagogenseele auch.

Wie viele Verletzungen aber richten wir an, indem wir vorgeben, die Kinder zu schützen – ihnen jedoch verwehren, was ihr natürlicher Drang ist? Die Kleinen aus der Klasse meiner Tochter haben schon so verinnerlicht, dass der Wald nichts mit ihnen zu tun hat, dass sie nicht einmal versuchen, dahin auszubüxen. Im Frühling ruft dort der Kuckuck, ein Kauz nistet, Rehe verstecken sich – aber die Kinder verhalten sich so, als wäre all diese Vielfalt, dieses weit offene Fenster zur Freiheit nicht vorhanden.

Die Folge: Wenn das kindliche Gehirn diese Dimensionen nicht widerspiegeln und verarbeiten darf, so werden sie in ihm wirklich nicht angelegt. Es bilden sich keine Synapsen dafür. Stattdessen richten die Kleinen ihren kognitiven Scharfsinn an der Diversität der Konsumartikel aus. So kennt in Großbritannnien der durchschnittliche Zehnjährige 300 bis 400 Produktmarken, fand das private britische Forschungsinstitut „Compass“ im Jahr 2006 heraus – beherrscht aber kaum mehr als ein Dutzend Vogelnamen.

In einer aktuellen Befragung des Marburger Natursoziologen Rainer Brämer wussten nur 5 Prozent deutscher Schüler zwischen 12 und 15 Jahren, dass die Früchte der Rose Hagebutten heißen. Ein Viertel der Kinder ist nie über ein Stoppelfeld gegangen, ein Drittel hat noch keinen lebenden Käfer ergriffen. 82 Prozent besitzen hingegen eine Spielkonsole. Entsprechend lebensfern sind die Vorstellungen: Eine Landschaft wieder zur Wildnis werden zu lassen, halten nur 25 Prozent für eine gute Idee – im Wald aufzuräumen hingegen finden zwei Drittel der Schüler wichtig.


Wie aber ließe sich die verlorene Beziehung der Kinder zur Natur reparieren? Ist eine neue Vertrautheit mir ihr überhaupt noch möglich, in Zeiten, in denen fast 60 Prozent aller Kinder weltweit in urbanen Slums aufwachsen, und in denen der Artenschwund immer schneller verläuft?

Bei der Antwort können die Jungen die Alten etwas lehren. Wir müssen nur hinschauen und zuhören. Dann erfahren wir: Nach wie vor sehnen sich heranwachsende Menschen nach Natur wie nach kaum etwas sonst. So wünschen sich fast alle Kinder, mehr draußen zu spielen. Drei Viertel der von Brämer befragten Schüler hatten Lust, „unbekannte Landschaften zu entdecken“, fast 60 Prozent wollten gern mehr wandern, über die Hälfte würde gern Rehe in freier Wildbahn beobachten. Das Suchprogramm der Kleinen nach dem, was sie brauchen, ist intakt. Wir dürfen es nur nicht länger vertrösten – oder zur Fakten-Verabreichung missbrauchen.

Kinder interessieren sich allerdings nicht für die natürliche Vielfalt wie Gelehrte für einen theoretischen Stoff. Was sie begeistert, ist immer eine Handlung, in deren Mittelpunkt sie stehen, die sie selbstständig vorantreiben und von der sie wiederum erfasst werden. Was Kinder begeistert, ist Spiel.

Ich staune immer wieder, wie sehr meine Kinder in ihrem Spiel versinken – manchmal buchstäblich bis zum Hals. Kürzlich klopften Max und Emma an die Tür. Überzogen von Schlammkrusten kamen sie nicht, um zu baden, sondern um einen Eimer zu holen. Auf dem Baugrundstück gegenüber hatte Regen lehmigen Boden in ein Delta aus Pfützen und Rinnsalen verwandelt. Meine Kinder leiteten die Fluten in Kanäle, legten Bretter als Brücken darüber, ließen Matsch in Lachen platschen und zogen schließlich die Gummistiefel aus und wateten mit bloßen Füßen quietschend durch den Schlamm.

Max' und Emmas Wahrnehmung schien allein aus Spielen zu bestehen: Was sie nicht als Motiv in ihrem Tanz mit dem Schlamm verwendeten, existierte nicht. Vergebens hätte ich ihnen die Eigenschaften des Stoffes H2O erklären können. Sie lernten das Element Wasser kennen, indem sie es benutzten, indem es ihnen Lust verursachte.

Kinder nehmen die Welt im Spiel wahr. Spielen ist nicht irgendein Zeitvertreib, sondern schöpferisches Einverleiben der Wirklichkeit. Es ist eine Form des Denkens, aber nicht mittels Informationen, sondern in Handlungen, in Symbolen, in Körpern, in Glück. Was Kinder lernen, wenn sie den Schlick durch ihre Finger quellen lassen, ist nicht eine Vorform des Faktenwissens, das ihnen die Schule einmal abverlangen wird. Im Gegenteil. Kinder sind keine „kleinen Wissenschaftler“, sondern Genies der Lust, am Leben zu sein. Spielen bedeutet, schöpferisch die Beziehungen im großen Gehirn der Natur weiterzuspinnen und ihrer so inne zu werden.

„Unser abstraktes Denken füllt nur eine winzige Bandbreite der uns zur Verfügung stehenden Wahrnehmungskanäle“, meint der US-amerikanische Wildnis-Lehrer Jon Young. Er begründete in den 1980er Jahren das „Coyote-Mentoring“, eine neue Form der Umweltpädagogik, die nicht länger ökologisches Verstehen vermitteln, sondern die Wahrnehmung schärfen will. Young ist überzeugt, dass das, was er „Vorstellungskraft der Sinne“ nennt, eine „ebenso fundamentale Kulturtechnik ist, wie Lesen, Schreiben und Arithmetik“.

Youngs Ergebnisse sind erstaunlich – nicht die, welche sich auf einem Formular als Faktenwissen testen lassen, sondern die, welche von seinen Schülern als Steigerung von komplexem Denken, von Kreativität, von Zufriedenheit, von Teamfähigkeit, von Mitgefühl, von Sinnhaftigkeit erfahren werden.

Drängt man Young, so kann er eine Vielzahl von Erfolgsgeschichten erzählen, bei denen sein Mentoring als Karrierebeschleuniger wirkte. Aber darum geht es ihm nicht. Erfolg ist ein Nebenprodukt gesteigerter Empfänglichkeit. Die Kurse, in denen Kinder und Erwachsene Fähigkeiten lernen wie Spuren lesen, Vogelstimmen identifizieren, die Windrichtung spüren, kommen ohne Pauken und Prüfen aus. Der Mentor animiert seine Schützlinge zu spielerischen Aufgaben, stellt neugierige Fragen, und lässt sonst die Sinne ihre eigene Lektion lernen – getreu dem Vorbild der Indianer, bei denen Kinder ebenfalls im Spiel an die Natur herangeführt wurden.

Es gibt also Hoffnung für ein glückliches Verwildern unserer Kinder. Ein perfektes Biotop ist dafür nicht vonnöten. Ein Stück Brachland um die Ecke reicht. Ein Schulhof etwa, der nicht TÜV-geprüft ist, sondern sich selbst und den kreativen Ideen der Kinder überlassen wird. Was Kinder benötigen, sind sinnliche Erfahrungen in Freiheit. Nicht mehr, nicht weniger. Und so schwer wir es akzeptieren können: Zu dieser Freiheit gehört auch ein bisschen Risiko, ein bisschen echte Gefahr.

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Andreas Weber


Dr. Andreas Weber, geb. 1967, studierte Biologie und Philosophie in Berlin, Freiburg, Hamburg und Paris. 1996 Diplom in Meeresbiologie, 2002 Dissertation. Journalistische Arbeiten (Reportagen und Essays) seit 1994, heute vor allem für GEO, Die Zeit, mare, Greenpeace Magazin. 2003/2004 Lehrbeauftragter im Fach Journalistik an der Universität Hamburg. Im Frühjahr 2007 erschien „Alles fühlt. Mensch, Natur und die Revolution der Lebenswissenschaften“ im Berlin-Verlag, in dem Weber Empfindung, Subjektivität und Schönheit als Grundmotoren des Lebendigen wiederentdeckt; 2008 „Biokapital. Die Versöhnung von Ökonomie, Natur und Menschlichkeit. 2011 erscheint „Mehr Matsch. Kinder brauchen Natur“. Weber lebt in Berlin und in Varese Ligure.
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Lasst sie raus!

erschienen in:
GEO,
am 07.06.2010

 

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