Gewinner des Deutschen Reporterpreises 2010 in der Kategorie Essay.
Lasst
sie raus
Andreas
Weber, Geo, 07.06.2010
In
den Osterferien vor zwei Jahren begann ich mit den Kindern unserer
Berliner Straße ein Experiment. Das Wetter war blendend. Die
Aprilsonne hatte die Buschwindröschen hervorgetrieben und den Ahorn
am Rand der kleinen Wildnis hinter dem Haus seine Knospen öffnen
lassen. Meine Tochter Emma, 6, und mein Sohn Max, 9, langweilten sich
zu Tode. Sie stritten sich, sie prügelten sich, sie lungerten
schlechtgelaunt in meinem Arbeitszimmer. Wenn ich die beiden
fortschickte, zankten sie sich mit ihren Freunden darum, wer länger
mit deren neuer Playstation spielen durfte. Es war sommerlich warm,
es waren Ferien, und es war nicht auszuhalten.
Ich
entsann mich solcher Urlaubsqualen aus meiner eigenen Kindheit. Aber
ich glaubte mich zu erinnern, dass wir sie immer irgendwann bewältigt
und dann die Zeit mit Unternehmungen gefüllt hatten, an die ich bis
heute zurückdenke: Wir hatten ein Fort auf dem hohen Stumpf einer
Weide gebaut. Wir hatten eine Raumstation aus Schnee-Iglus errichtet.
Wir hatten Schneckenrennen organisiert. Wir hatten einen echten
Gemüsegarten angelegt. Wir waren in eisiger Abendröte vom
Schlittschuhteich zurückgekehrt.
Wir
– das heißt ich und die Nachbarskinder, die ebenfalls überdrüssig
auf dem Klettergerüst des Spielplatzes saßen. 30 Jahre später ging
mir auf: Für Max und Emma gab es keinen solchen Sammelplatz. Ihre
Freunde sind eigentlich überhaupt nicht mehr draußen. Zur Probe
schaute ich aus dem Fenster über die Straße und die Wiese dahinter.
Leere.
Wer
durch die Felder des ländlichen Berliner Bezirks wandert, in dem wir
wohnen, begegnet nicht nur fast keinen Schmetterlingen mehr. Er
trifft auch kaum ein Kind. Anders als noch in den 1970er Jahren
scheinen heute Kinder, die draußen Abenteuer erleben, die sich
schmutzig machen, sich Ratscher holen eine aussterbende Spezies zu
sein.
Eine
Fülle von Studien belegt: Der Aktionsradius unserer Sprösslinge
verlagert sich zunehmend auf das Hausinnere. Das Gebiet, in dem sie
auf eigene Faust umherstreifen dürfen, hat sich in drei Jahrzehnten
so verkleinert, als lauerten Heckenschützen hinter jedem
Müllcontainer. Vor allem kommen Kinder immer seltener in Kontakt mit
der Natur. Eine schleichende Krankheit scheint unseren Nachwuchs
befallen zu haben, und sie steckt auch jene an, die wie Max und Emma
hektarweise Freiraum zur Verfügung haben: Felder zum Drachensteigen.
Gräben zum Fröschefangen. Seen zum Angeln. Bäume zum Klettern.
Bombentrichter im Wald, kurz: eine Welt wie sie Tom Sawyer erlebte.
Der
stille Abschied der Kinder von der Natur kann nicht ohne Folgen
bleiben. Im Gegenteil - mit dem Schwinden des ungezügelten Spiel im
Freien droht den jungen Menschen etwas Unersetzliches verloren zu
gehen: die Möglichkeit, ihre seelischen, körperlichen und geistigen
Potentiale so zu entfalten, dass sie zu erfüllten Menschen werden.
Gehirnforscher
teilen diese Meinung. Die Gegenwart der Natur und das Spiel in ihr
sind zwingend notwendig, um die emotionalen, aber auch die kognitiven
Bedürfnisse heranwachsender Menschen zu befriedigen. Wird ihnen die
Freiheit verwehrt, von Erwachsenen unkontrolliert in einer von selbst
gewordenen – nicht einer künstlich gefertigten – Welt
Erfahrungen zu machen, können Kinder zentrale Fertigkeiten kaum noch
entfalten. Ohne seelische Nähe zu Pflanzen und Tieren verkümmert
ihre emotionale Bindungsfähigkeit, schwinden Empathie, Fantasie,
Kreativität und Lebensfreude.
Gefahr
war also im Verzug. Ich schritt zur Tat – was erforderte, dass ich
zunächst über meinen eigenen (riesigen) Schatten sprang. Ich rief
meinen Sohn. „Wollt Ihr nicht ein Baumhaus bauen?“ „Ein
Baumhaus? Wo denn?“ „Irgendwo. Sucht Euch einen Platz. Nehmt Euch
alles Holz im Schuppen.“ „Echt? Alles?“ „Ja. Und Ihr könnt
das Werkzeug benutzen.“ „Auch die Säge?“ Mein Sohn war, wie
erwähnt, neun Jahre alt. „Ja.“ „Auch den Vorschlaghammer?“
Ich atmete durch. „Ja. Alles.“ Ich gab ihm den Schlüssel. „Raus.
Haut ab.“
Vorsicht,
Falle: Die Sorge der Eltern engt Spielräume ein
Wie
dramatisch das Recht von Kindern gezügelt wurde, draußen in
Freiheit herumzustreifen, zeigt das Beispiel von vier Generationen
einer Familie im britischen Sheffield. Der Urgroßvater war in den
1920ern im Alter von acht Jahren zehn Kilometer zu seiner
Lieblings-Angelstelle marschiert. Sein Schwiegersohn durfte nach dem
Krieg, gleichermaßen achtjährig, durch den anderthalb Kilometer
entfernten Wald streifen. Auch zur Schule ging er allein. Dessen
Tochter stand es in den 1970er Jahren immerhin frei, mit dem Rad
durch die Nachbarschaft zum Schwimmen zu fahren. Ihr eigener Sohn
jedoch, ebenfalls acht, darf sich allein nur bis ans Ende der Straße
bewegen – und wird mit dem Auto zur Schule kutschiert.
Fragt
man Eltern, warum sie ihren Kindern das Leben bis zur
Erfahrungstaubheit erleichtern, so lautet die Antwort meist: Angst.
Angst, dass die Kleinen sich beim Toben im Freien verletzen. Angst,
dass sie entführt werden. Und vor allem Angst, dass ihnen im Verkehr
etwas zustoßen könnte. 1971 durften zwei Drittel der deutschen
Sieben- bis Elfjährigen auf der Straße Rad fahren. Knapp 20 Jahre
später gestatteten Eltern das nur mehr einem Viertel dieser
Altersgruppe. Ohne Widerstand nehmen Familien die Enteignung des
öffentlichen Raums durch Autos und Lastwagen hin. Statt sich in die
Verkehrspolitik der Kommune einzumischen, entfernen Eltern ihre
Kinder von Wegen, die für alle da sein sollten.
Und
wie Reisende mit Flugphobie entwickeln Erwachsenen oft auch dort
Panik, wo kaum Gefahr besteht. Kindesentführungen – so entsetzlich
sie sind – bleiben Einzelfälle, von denen sich in Deutschland
keine Handvoll im Jahr ereignet.
Je
weniger Kinder in einer Gesellschaft heranwachsen, umso größer
scheint der Wunsch, sie zu behüten. Stärker noch als vor einer
Generation hat sich heute die Mentalität durchgesetzt, die – guten
wie schlechten – Wechselfälle des Lebens nicht als Schicksal zu
betrachten, sondern als Erfolge oder Misserfolge, für die man
verantwortlich ist. In der steten Beschleunigung, die uns alle
erfasst, wächst die Gefahr, ein Kind als „Projekt“ zu
betrachten. Tätigkeiten, wie das Draußenspielen gelten als
aufschiebbar, als nicht prioritär, so wie ebenfalls oft die
elterliche Zeit und Zuwendung, nach dem Motto: „Sicher, gleich,
Liebling.“
Dazu
kommt: Zeitfressende Elektronik wie Spielekonsolen und Handys kann
sich inzwischen jeder leisten. Der US-amerikanische Natur-Aktivist
Richard Louv, Autor des Buches „Last Child in the Woods“, das den
Naturmangel der Kinder zum ersten Mal einem größeren Publikum ins
Bewusstsein rief, hört bei Gesprächen mit Kindern oft solche
Antworten: „Ich spiele lieber drinnen, denn da gibt es Steckdosen.“
Derartige
Bequemlichkeit findet unbewusste Unterstützung bei Eltern, die im
Unberechenbaren der Natur und des selbstbestimmten Kinderspiels
Gefahr wittern. Sie selbst gruseln sich vor Zecken, vor dem
Fuchsbandwurm, vor herabfallenden Ästen. In den USA werden auf
manchen Spielplätzen Schaukeln und Rutschen entfernt – sie gelten
als zu gefährlich.
Aber
es ist gerade das Unvorhersehbare, das Kinder beim Spiel im Freien
fasziniert. Es gewährt ihnen Freiheit – und somit die Reifung zur
eigenständigen Persönlichkeit. Sein Fehlen engt die kindliche
Existenz ein, und das, obwohl die Eltern beste Vorsätze hegen.
Cellostunden hier, ein Judo-Kurs da, Fechten auf Englisch, Nachhilfe
von Muttersprachlern – all diese <I>Enhancer<I> sollen
dem Nachwuchs einen Platz im ersten Rang der
Welt-Wettbewerbsgesellschaft garantieren.
Zuviel
Kontakt mit der Wirklichkeit, der auch Scheitern und Schmerz
beinhalten kann, lässt diese durchorganisierte Matrix
zusammenbrechen. Also geht man ihm besser aus dem Weg. Noch 1990
gaben hierzulande fast drei Viertel aller Kinder zwischen sechs und
dreizehn Jahren an, sich täglich im Freien herumzutreiben – 2003
waren es schon weniger als die Hälfte. Mehr als 50 Prozent der
britischen Sieben- bis Zwölfjährigen ist es verboten, ohne Aufsicht
auf einen Baum zu klettern oder im Park um die Ecke zu spielen, einem
Drittel sogar auf der Straße vor dem Haus. Drei von vier Kindern
aber dürfen allein im Internet surfen.
Mit
bester Absicht haben wir Erwachsenen uns der kindlichen
Erfahrungsräume bemächtigt. Wir kaufen TÜV-geprüfte Spielhäuser
im Baumarkt und transportieren unsere Kinder mit dem Wagen zum
Fußball - statt sie einfach in die Freiheit hinauszuschicken. Wir
scheinen die Glanzmomente unserer eigenen Kindheit allesamt vergessen
zu haben, jene Sommerabende etwa, an denen es nicht dunkel werden
wollte, und wir mit einer aufgekratzten Freundesschar Stunden ohne
jede Aufsicht im Freien herumstromerten.
Mein
Sohn verschwand also mit dem Schuppenschlüssel und seiner carte
blanche zum Abenteuer. Als ich aus dem Fenster blickte, beluden Max,
Mustafa, Manuel und Nikolas die Schubkarre mit Latten. Dann waren sie
fort. Ich sah meinen Sohn in den folgenden Tagen selten. Er
verschwand schon vor dem Frühstück im Brachwäldchen aus Birken,
das sie sich ausgesucht hatten, um ihr Fort zu errichten. Sie gruben
und hämmerten, sie nagelten Dachpfetten und montierten Stützbalken.
In dem typischen Berliner Ödlandforst fand sich genug alte
Plastikfolie, um das Dach ihrer Hütte regenfest zu machen.
Auch
die Mädchen schraubten und sägten, sammelten, scharrten und
dekorierten. Die Kinder wurden eine Horde, ein Stamm. Sie ernteten
Pflanzenteile als „Spielessen“ im Unterholz und sie picknickten
mit Keksen. Schnell hatte sich eine gegnerische Gruppe gebildet, die
ihnen Bauteile klaute. Krieg der Knöpfe! Playstations und iPodtouchs
waren vergessen, als hätte ein gigantischer Überspannungsimpuls die
Kleingeräte zu totem Material degradiert. Das Wundpflaster, dessen
Vorrat ich innerlich mehrfach überschlagen hatte, blieb in der
Schublade. Es gab nicht eine einzige Schramme.
Doch
dann klebte eines Morgens ein Zettel am Brettergewirr im Wald, vor
dem die Kinder am Abend zuvor ordentlich gefegt hatten. Es sei
„Anzeige erstattet worden“. Mein Sohn kam aufgeregt nach Hause
gelaufen. „Papa, die Polizei ist da!“ Es war das Ordnungsamt. Vor
der Hütte die Kinder, zum Pulk zusammengeschart. Die Beamtinnen
waren dabei, rot-weißes Flatterband um das Fort zu spannen: Tatort.
Betreten verboten. Sonst sofortige Strafverfolgung.
Ich
versuchte, den Damen die Sachlage zu erklären. Appellierte an ihre
Herzen, selber Mütter, vielleicht? Aber nein, der Tatbestand war
klar. Das Brachland mit dem Plastikmüll galt als
Landschaftsschutzgebiet. Die Spielenden hatten die von den amtlichen
Baumfällern mit Farbe markierten Birken verletzt. Ich versuchte es
bei der Leitung des Grünflächenamtes. Hier gab man sich jovial. Ich
ahne ja nicht, was bei ihnen los gewesen sei. Sie hätten seit Tagen
diskutiert, wie mit der in keiner Ausführungsvorschrift
verzeichneten Baumhütte zu verfahren sei. Es hätten sich zwei
Fraktionen gebildet, die eine für die Kinder, die andere fürs
Prinzip.
Das
Prinzip hatte gewonnen.
Die
Kinder trollten sich. Die Horde zerfiel, als hätte jemand mit einem
Reagenz eine Fällungsreaktion eingeleitet. Jungs und Mädchen liefen
auseinander wie Öl und Wasser. Max war den ganzen Nachmittag
verschwunden. Abends wirkte er gereizt und müde. Er hatte bei einem
Freund ferngesehen, einen Haufen Folgen „Alarm für Kobra elf“
mit ordentlich Geknalle und Gemetzel.
Natur-Entzug
bestraft der Körper - mit Krankheiten und ADS
Es
scheint, dass wir Erwachsenen vor lauter gutem Willen das Ziel
unserer Erziehung aus den Augen verlieren. Brutal formuliert, quälen
wir unsere Kinder, eingesperrt auf den Rücksitzen rundum mit Airbags
gepolsterter SUVs, schon vom Kindergarten an durch immer strenger
getaktete Leistungsinstitutionen, um und sie fit zu machen für das
Leben. Dabei nehmen wir ihnen gerade die Möglichkeit, zu erfahren,
was das ist: Leben. Wir stehlen ihnen die Lebendigkeit. Viele
Kognitionsforscher halten das für eine zentrale Ursache in der
Misere der Kinder und Jugendlichen.
Denn
mit derselben Schnelligkeit, mit der die Wildnis aus der Psyche
unserer Kinder schwindet, steigt die Häufigkeit ihrer seelischen
Krankheiten. Dem Freiburger Psychologen Wolfgang Bauer zufolge leidet
ein knappes Sechstel aller Kinder an Depressionen, Angst- und
Essstörungen; jedes fünfte Kind quält sich mit dem
Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom ADS durch die Schule. Diese Leiden
werden aber kaum mit einer erhöhten Dosis von Selbstbestimmung
therapiert, sondern vornehmlich durch Drogen: Von 2005 und 2008 stieg
die Zahl der Verschreibungen des ADS-Mittels Ritalin um ein Viertel.
Dabei
müssten wir nur hinsehen um zu begreifen, was Kinder brauchen. Sie
zeigen ihren angeborenen Suchinstinkt nach der Natur und nach der
Nähe anderer Wesen im frühesten Alter.
Ich
erinnere mich, wie ich an einem Frühlingstag mit meiner Tochter Emma
durch tauschweres Gras stapfte. Sie war früh aufgewacht, und ich
hatte sie schnell eingepackt und war nach draußen gegangen. Der
schüttere Apfelbaum, den niemand mehr pflegte und dessen verkrümmte
Früchte keiner aß, war mit weißen Kelchen überzogen, aus denen
lange Staubfäden wuchsen wie geöffnete Wimpern.
Der
Baum schlug gewissermaßen die Augen auf. Emma hatte ihre Augen vor
weniger als einem Jahr aufgeschlagen. Nun schaute sie daraus auf eine
Natur, in der das Leben ebenfalls gerade neu begann. Als wir den Baum
erreichten, begann ein Rotkehlchen sein schüchternes Flöten. Emma
hob ihren Kopf und blickte hinauf. Ein breites Kleinkindlächeln
überzog ihr Gesicht und jauchzend deutete Emma mit dem Finger nach
oben, in die Sternenwolken der Blüten. Sie ruckte in meinen Armen,
als könne auch sie dorthin emporsteigen, woher der Gesang
herabwehte.
Wenn
Kinder sprechen lernen, so lallen sie nach den Wörtern für Mama und
Papa am ehesten Tiernamen – etwa Hund, Katze, Ente, Pferd, Bär,
Vogel, Kuh. Obwohl manche Kinder heute noch nie einen echten Fuchs,
eine echte Fledermaus, eine echte Schlange gesehen haben, verfolgen
animalische Charaktere die Kleinsten bis in ihre Träume. 85 Prozent
aller Geschichten, die Drei- und Fünfjährige erzählen, sind von
Kreaturen bevölkert. Drei Monate alte Babies wenden sich bevorzugt
Bewegungsreizen zu, die von lebenden Wesen, nicht von Automaten,
stammen. Und ein Säugling krabbelt, wenn man ihm die Wahl zwischen
einem wirklichen Kaninchen und einer Holzschildkröte lässt,
hartnäckig auf das echte Tier zu.
Kinder
und Tiere - seit Urzeiten unzertrennliche Gefährten
„Animalische
Charaktere sind das Rohmaterial, aus dem Kinder ein Gefühl für ihr
Selbst konstruieren“, meint die US-amerikanische
Entwicklungspsychologin Gail Melson. Und das in allen Kulturen zu
allen Zeiten: Das älteste erhaltene Spielzeug ist eine
bronzezeitliche Tonrassel, besetzt mit Fuchsköpfen, Vögeln, Hunden
und hölzernen Krokodilen, 1000 Jahre vor Christus in Ägypten
gefertigt.
Melson
glaubt, dass kleine Kinder Tiercharaktere in ihrem Denken ähnlich
einsetzen wie Jäger-und-Sammler-Kulturen ihre animalischen Totems –
als sichtbare Manifestationen von unsichtbaren Gefühlen und
Beziehungen. Die Träume der Kleinen, die von Tieren wimmeln, sind
für Melson Rückblenden in eine prähistorische Vergangenheit – in
die Zeit also, in der wir in unserer Eigenart als Menschen
entstanden.
Gerade
weil diese Symbole aus einer Tiefe unserer Psyche stammen, auf die
wir kaum Zugriff haben, könnten sie für die innere Entwicklung
unentbehrlich sein. Anders gesagt: Unsere Kinder werden als
„Urmenschen“ geboren, mit allen kognitiven Fähigkeiten, eine
gesunde Identität inmitten einer Welt aus belebten Akteuren zu
entwickeln. „Tiere sind nicht nur gut zum Essen“, pflegte der
französische Anthropologe Claude Lévi-Strauss zu sagen, sondern vor
allem „gut zum Denken“.
Wer
Kinder beobachtet, sieht, dass zwischen ihnen und anderen Lebewesen
ein intuitives Band gespannt ist. Kinder sind süchtig nach Tieren,
so sehr, dass sie regelmäßig zu Tieren werden. Seit frühester
Kindheit nimmt mein Sohn Max die Gestalt anderer Wesen an. Einmal, er
war drei Jahre alt, floss er als zahmer Python in den Keller hinab,
um eine Flasche Mineralwasser heraufzubringen. Es dauerte sehr lange,
aber sie blieb heil.
Man
könnte sagen: Tiere, Zaubertiere, alle Wesen, in die man sich in der
Fantasie verwandeln kann, üben eine Form von weißer Magie aus. Ein
Kind nutz den fremden Körper als Vehikel der Verwandlung: Lass dich
auf die Knie herab, und du besitzt alle Kräfte, die du in deiner
eigenen Tiefe ahnst. Im Spiel zum Tier zu werden, verleiht Einsicht
in die Möglichkeiten der Existenz: Ein Tiger etwa ist die Muskel und
Statur gewordene Kraft, ein Delfin verkörpert eine Form von
Harmonie, hinter der all unsere Schöpfungen zurückbleiben.
„Uns
ist eine tiefe emotionale Verbundenheit zu anderen Lebewesen
angeboren“, meint der berühmte US-amerikanische Biologe Edward O.
Wilson. Unsere Kognition ist von „Biophilie“, der Liebe zum
Lebendigen, bestimmt. Der Mensch hat sich in Jahrmillionen als Teil
der Ökosphäre entwickelt und durch sie denken und fühlen gelernt.
Das werdende Hirn stützt sich demnach in ähnlicher Weise auf die
kognitiven Bausteine einer belebten Welt, wie etwa das
Knochenwachstum von der Verfügbarkeit von Kalzium abhängt. Solche
elementaren Nährmaterialien durch naturidentische Inhaltsstoffe zu
ersetzen mag irgendwie funktionieren, aber es bedeutet für die
heranwachsende Seele dauernden Stress.
Dass
Kinder sich der Natur zunehmend entfremden, hat somit das Potential
einer zivilisatorischen Katastrophe. Denn wer soll die Natur, deren
Sauerstoff uns atmen lässt, deren Kohlehydrate und Proteine uns
nähren, künftig bewahren, wenn Kinder nicht mehr wissen, dass das
Netz des Lebens Teil ihrer selbst ist?
Von
der Natur so viel als möglich zu bewahren, ist somit ein
Gesundheitsprojekt. Und in der Tat wirkt die Gegenwart anderer Wesen
als universelles Entspannungs- und Vitalisierungsmittel – besonders
für Kinder. Bei Schülern, die öffentlich laut etwas vortragen,
senkt etwa die bloße Anwesenheit eines Hundes die Aufregung, messbar
an der Pulsfrequenz. Kinder, die mit ihrem Tierkumpan viel Zeit
zubringen, sind weniger ängstlich und zurückgezogen als der
Durchschnitt, ihre Beliebtheit ist größer und sie zeigen
signifikant mehr Mitgefühl.
Hunderte
von Studien beweisen in seltener Eindeutigkeit: Natur spendet Kindern
Lebenslust. Und doch hat die gängige Psychologie diesen Zusammenhang
ausgeklammert. In ihren Modellen ist bis heute allein von
menschlichen Beziehungen und deren Störungen die Rede. Der in der
Pädagogik nach wie vor einflussreiche Entwicklungspsychologe Jean
Piaget etwa tat die kindliche Naturbesessenheit als infantilen
„Animismus“ ab. Seiner Meinung nach fantasieren Kinder bis zum
Alter von sieben Jahren alle Objekte als lebendig. Die Schule müsse
ihnen folglich beibringen, dass es sich bei Tieren um biologische
Automaten handle. Für den Begründer der Psychoanalyse, Sigmund
Freud, stand jedes Angerührtsein durch die Natur unter dem Verdacht,
als „ozeanisches Gefühl“ Symptom ungelöster neurotischer
Fantasien zu sein.
Dass
Kinder seelische Bedürfnisse haben, ohne deren Erfüllung sie
zugrunde gehen, ist heute jedem bewusst. Säuglinge, die nicht
regelmäßig berührt werden, verkümmern und können sterben. Für
das heranwachsende Selbst eines Kindes sind Vater und Mutter
körperliche und seelische Spiegel, ohne die der Säugling nicht
lernt, dass er selbst ein ebensolches menschliches Subjekt ist wie
seine Eltern es sind.
Die
Natur gewährt dem Kind eine ähnlich identitätsstiftende Bindung.
So wie Kinder ihr Modell von Menschlichkeit von jenen übernehmen,
die sie lieben, so übernehmen sie von anderen Lebewesen das Gefühl
gelingender Lebendigkeit. Andere Wesen, ja selbst Flüsse, Steine und
Wolken lehren die Kinder eine Form der Selbsterkenntnis, die sie in
einer allein menschengemachten Welt nicht erwerben könnten.
„Unser
Hirn ist ein Beziehungsorgan“, sagt der Göttinger Neurobiologe
Gerald Hüther. Das Gehirn wächst und stellt neue Verbindungen her,
wenn ein Kind Erfahrungen macht. Je komplexer die Umgebung, je
vielfältiger die Beziehungen, die es in ihr eingehen kann, desto
intensiver das kognitive Wachstum. Und bei jeder neu gebahnten
Nervenverbindung schüttet das Gehirn beglückende Botenstoffe aus.
„Leben ist ein erkenntnisgewinnender Prozess“, zitiert Hüther
den Verhaltensforscher Konrad Lorenz. „Und je verschiedener ein
Gegenüber ist, in dem sich ein Kind bei diesem Prozess spiegeln
kann, umso vollständiger wird das Bild von sich selbst, umso tiefer
geht die Selbsterkenntnis.“
Der
amerikanische Kognitionspsychologe Gregory Bateson vergleicht das
Gewebe der Natur mit dem Beziehungsgeflecht im Hirn: Hier wie dort
gibt es eine unendliche Zahl von Verbindungen, die eine unermessliche
Vielfalt hervorbringen. Indem Kinder die ökologische Vielfalt mit
allen Sinnen erleben, vermehren sie die Verflechtungen in ihrem Teil
dieser Beziehungsökolgie – nämlich im eigenen Hirn. Sie erfahren
die Natur quasi als Außenseite des eigenen Denkens und Fühlens –
als einen geistigen Beziehungskosmos, der sich ihnen als berührbar
und veränderbar offenbart.
Einem
solchen Gegenüber begegnet das Kind nicht in künstlichen Objekten.
Es findet es nur in der Natur, die geworden ist, nicht gemacht, die
aus Wesen besteht, welche zu leben begehren und sterben können wie
es selbst, die ein dichtes Netz von sinnvollen Verbindungen aufgebaut
haben, nach denen auch das Kind fahndet. Die Natur – und sei sie so
klein wie das Brachland einer Baulücke – ist eine lebendige
Landschaft, in der sich zeigt, „dass das Große neben dem Kleinen
wächst, das Morsche neben dem Vitalen“, wie Hüther es ausdrückt.
Das sind die Urkonstellationen der Lebendigkeit.
Die
Schule verschärft die Probleme statt sie zu lindern
Unsere
Schulen schaffen es selten, diese Erfahrungen zu ermöglichen. Sie
beschränken sich auf das Verabreichen von Informationen – unter
einem Druck, der sich nach dem Schock von PISA nicht gemildert,
sondern verstärkt hat. Dabei blockiert der Lernstress das wilde
Denken unserer Kinder und hindert sie daran, zu sich selber zu
kommen. Der US-amerikanische Lehrer und Bildungskritiker David Sobel
formuliert das Resultat drastisch: „Unsere Schule lehrt die Kinder,
das Leben zu verachten“.
Dabei
bemühen sich viele Lehrer nach Kräften, die Natur in den Unterricht
einzubetten und Schüler für deren Zerstörung zu sensibilisieren.
Doch gerade das führt zu einer grotesken Abspaltung: Im Schulzimmer
behandeln Kinder und Jugendliche den Aufbau anderer Lebewesen, als
wären diese elektrische Maschinen, und sie lernen, die Größe ihres
eigenen CO2-Fußabdrucks mathematisch zu berechnen. Sollten sie aber
einmal ihren Fuß in ein Stück Wildnis setzen, so weisen
Verbotsschilder – etwa in Nationalparks oder an Dünenküsten –
sie darauf hin: „Auf den Wegen bleiben! Nicht berühren!“
Für
viele ist Natur zu einem Museum geworden, zu einer langweiligen
Erwachsenen-Angelegenheit. Man macht Natur bloß kaputt, wenn man
sich ihr nähert – etwa wenn man nachmittags dort spielen geht und
vielleicht einen Baum verletzt. (Dann kommt das Ordnungsamt.)
Natur
löst sich heute in Inseln auf, die nichts mehr miteinander und vor
allem nichts mehr mit dem Kind zu tun haben: die niedlichen
Comicgestalten von „Ice Age 2“, die bösen Schweinegrippeviren,
die geschützten Braunkehlchen im Biotop, dem man gefälligst
fernbleiben soll. Was Kinder dabei unterdrücken lernen, ist ein
vitaler Teil ihrer selbst, ihrer Lebendigkeit, die auch Baum ist, der
wächst, die der fliegende Schwung ist, mit dem man sich von einer
Nordseedüne ins weiche Nichts stürzt.
Heute
spulen intelligente Grundschüler routiniert Zahlen zu
Regenwaldverlusten und Ölkatastrophen ab. Unter ihrer rationalen
Nüchternheit sind sie möglicherweise tief verwundet: Das größte
Geschenk wurde ihnen schon entrissen – die Sicherheit nämlich,
dass in diesem Kosmos immer das Leben siegt. Es ist wie mit
Traumaopfern, die gelernt haben, ihre seelische Katastrophe in
gefasste Worte zu kleiden, unter denen die unberührbare Wunde eines
namenlosen Verlustes schwärt.
Ohne
es böse zu meinen, verstärkt unsere Bildungspolitik dieses
Verhängnis. Lehrpläne stanzen technokratische Leerformen: „Das
Fach Naturwissenschaften trägt dazu bei, dass die Schülerinnen und
Schüler sich in unserer durch Technik und Naturwissenschaften
geprägten Gesellschaft zurecht finden und aktiv daran teilhaben
können“, heißt es etwa im Berliner Lehrplan. Natur? Lebendigkeit?
Gefühle? All das spielt in diesem Bildungsprogramm eine Nebenrolle.
Biologie- und Sachkundelehrer sind – oft gegen ihren Willen – zu
Verbündeten einer Weltsicht geworden, die alles Lebendige in den
Begriffen der toten Materie erklärt. Entsprechend ziehen die Lehrer
es vor, den Unterricht im KLassenraum abzuhalten, selbst wenn die
Schule (wie die in unserem Stadtbezirk) von hinreißender Natur
geradezu überwuchert wird.
Die
Gebäude spiegeln diese Sicht wieder: Schulen gleichen weiträumig
Fabrikanlagen, Kasernen und Abfertigungshallen. Pausenhöfe sind
keine Wildnisareale, sondern effizient gestutzte Rasenflächen oder
trostlos asphaltierte Einöden. Ihr Design folgt nach wie vor der
Devise, dass sich Wissen aus der Welt abspalten und in neutraler
Umgebung vervielfältigen lässt. Die Praxis hat das längst als
Illusion entlarvt: In Schulen, die in ihren Anlagen nicht auf
Fließbandordnung sondern auf Wildwuchs setzen, ist der Lernerfolg
der Schüler messbar höher.
Nur
wenige Lernanstalten haben diese Befunde zu ihrem Leitbild gemacht
und füllen nicht nur ein paar Stunden in Randlage mit Naturthemen,
sondern widmen ihr Curriculum radikal um. „Entschulung“ statt
Druck: Eines der seltenen Pionier-Institute ist die „Freie
Naturschule Blankenfelde“ im Berliner Randgebiet. Hier etwa lernen
die Kinder noch vor dem Lesen das Entziffern von Tierspuren. Den
meisten fällt die Umstellung aufs Leben im Freien zunächst schwer –
dann aber wollen sie am liebsten sogar draußen schlafen, sagt der
Wildnispädagoge Bastian Barucker.
Noch
sind solche „Lebensschulen“ rare Ausnahmen. Normal ist eine der
Sucht nach Beherrschbarkeit geschuldete Ödnis. Jüngst fragte ich
eine Betreuerin in Emmas Schulhort, warum die Kleinen immer auf dem
mit Kunstgras belegten Sportplatz spielten, und nicht im wunderbar
verwunschenen Wald dahinter, der zur Schule gehört. „Dort sehen
wir nicht, wenn sie sich verletzen“, erhielt ich zur Antwort. Das
elterliche Herz gab sich beruhigt. Die „versicherungsrechtliche
Gründe“ vorschiebende Pädagogenseele auch.
Wie
viele Verletzungen aber richten wir an, indem wir vorgeben, die
Kinder zu schützen – ihnen jedoch verwehren, was ihr natürlicher
Drang ist? Die Kleinen aus der Klasse meiner Tochter haben schon so
verinnerlicht, dass der Wald nichts mit ihnen zu tun hat, dass sie
nicht einmal versuchen, dahin auszubüxen. Im Frühling ruft dort der
Kuckuck, ein Kauz nistet, Rehe verstecken sich – aber die Kinder
verhalten sich so, als wäre all diese Vielfalt, dieses weit offene
Fenster zur Freiheit nicht vorhanden.
Die
Folge: Wenn das kindliche Gehirn diese Dimensionen nicht
widerspiegeln und verarbeiten darf, so werden sie in ihm wirklich
nicht angelegt. Es bilden sich keine Synapsen dafür. Stattdessen
richten die Kleinen ihren kognitiven Scharfsinn an der Diversität
der Konsumartikel aus. So kennt in Großbritannnien der
durchschnittliche Zehnjährige 300 bis 400 Produktmarken, fand das
private britische Forschungsinstitut „Compass“ im Jahr 2006
heraus – beherrscht aber kaum mehr als ein Dutzend Vogelnamen.
In
einer aktuellen Befragung des Marburger Natursoziologen Rainer Brämer
wussten nur 5 Prozent deutscher Schüler zwischen 12 und 15 Jahren,
dass die Früchte der Rose Hagebutten heißen. Ein Viertel der Kinder
ist nie über ein Stoppelfeld gegangen, ein Drittel hat noch keinen
lebenden Käfer ergriffen. 82 Prozent besitzen hingegen eine
Spielkonsole. Entsprechend lebensfern sind die Vorstellungen: Eine
Landschaft wieder zur Wildnis werden zu lassen, halten nur 25 Prozent
für eine gute Idee – im Wald aufzuräumen hingegen finden zwei
Drittel der Schüler wichtig.
Wie
aber ließe sich die verlorene Beziehung der Kinder zur Natur
reparieren? Ist eine neue Vertrautheit mir ihr überhaupt noch
möglich, in Zeiten, in denen fast 60 Prozent aller Kinder weltweit
in urbanen Slums aufwachsen, und in denen der Artenschwund immer
schneller verläuft?
Bei
der Antwort können die Jungen die Alten etwas lehren. Wir müssen
nur hinschauen und zuhören. Dann erfahren wir: Nach wie vor sehnen
sich heranwachsende Menschen nach Natur wie nach kaum etwas sonst. So
wünschen sich fast alle Kinder, mehr draußen zu spielen. Drei
Viertel der von Brämer befragten Schüler hatten Lust, „unbekannte
Landschaften zu entdecken“, fast 60 Prozent wollten gern mehr
wandern, über die Hälfte würde gern Rehe in freier Wildbahn
beobachten. Das Suchprogramm der Kleinen nach dem, was sie brauchen,
ist intakt. Wir dürfen es nur nicht länger vertrösten – oder zur
Fakten-Verabreichung missbrauchen.
Kinder
interessieren sich allerdings nicht für die natürliche Vielfalt wie
Gelehrte für einen theoretischen Stoff. Was sie begeistert, ist
immer eine Handlung, in deren Mittelpunkt sie stehen, die sie
selbstständig vorantreiben und von der sie wiederum erfasst werden.
Was Kinder begeistert, ist Spiel.
Ich
staune immer wieder, wie sehr meine Kinder in ihrem Spiel versinken –
manchmal buchstäblich bis zum Hals. Kürzlich klopften Max und Emma
an die Tür. Überzogen von Schlammkrusten kamen sie nicht, um zu
baden, sondern um einen Eimer zu holen. Auf dem Baugrundstück
gegenüber hatte Regen lehmigen Boden in ein Delta aus Pfützen und
Rinnsalen verwandelt. Meine Kinder leiteten die Fluten in Kanäle,
legten Bretter als Brücken darüber, ließen Matsch in Lachen
platschen und zogen schließlich die Gummistiefel aus und wateten mit
bloßen Füßen quietschend durch den Schlamm.
Max'
und Emmas Wahrnehmung schien allein aus Spielen zu bestehen: Was sie
nicht als Motiv in ihrem Tanz mit dem Schlamm verwendeten, existierte
nicht. Vergebens hätte ich ihnen die Eigenschaften des Stoffes H2O
erklären können. Sie lernten das Element Wasser kennen, indem sie
es benutzten, indem es ihnen Lust verursachte.
Kinder
nehmen die Welt im Spiel wahr. Spielen ist nicht irgendein
Zeitvertreib, sondern schöpferisches Einverleiben der Wirklichkeit.
Es ist eine Form des Denkens, aber nicht mittels Informationen,
sondern in Handlungen, in Symbolen, in Körpern, in Glück. Was
Kinder lernen, wenn sie den Schlick durch ihre Finger quellen lassen,
ist nicht eine Vorform des Faktenwissens, das ihnen die Schule einmal
abverlangen wird. Im Gegenteil. Kinder sind keine „kleinen
Wissenschaftler“, sondern Genies der Lust, am Leben zu sein.
Spielen bedeutet, schöpferisch die Beziehungen im großen Gehirn der
Natur weiterzuspinnen und ihrer so inne zu werden.
„Unser
abstraktes Denken füllt nur eine winzige Bandbreite der uns zur
Verfügung stehenden Wahrnehmungskanäle“, meint der
US-amerikanische Wildnis-Lehrer Jon Young. Er begründete in den
1980er Jahren das „Coyote-Mentoring“, eine neue Form der
Umweltpädagogik, die nicht länger ökologisches Verstehen
vermitteln, sondern die Wahrnehmung schärfen will. Young ist
überzeugt, dass das, was er „Vorstellungskraft der Sinne“ nennt,
eine „ebenso fundamentale Kulturtechnik ist, wie Lesen, Schreiben
und Arithmetik“.
Youngs
Ergebnisse sind erstaunlich – nicht die, welche sich auf einem
Formular als Faktenwissen testen lassen, sondern die, welche von
seinen Schülern als Steigerung von komplexem Denken, von
Kreativität, von Zufriedenheit, von Teamfähigkeit, von Mitgefühl,
von Sinnhaftigkeit erfahren werden.
Drängt
man Young, so kann er eine Vielzahl von Erfolgsgeschichten erzählen,
bei denen sein Mentoring als Karrierebeschleuniger wirkte. Aber darum
geht es ihm nicht. Erfolg ist ein Nebenprodukt gesteigerter
Empfänglichkeit. Die Kurse, in denen Kinder und Erwachsene
Fähigkeiten lernen wie Spuren lesen, Vogelstimmen identifizieren,
die Windrichtung spüren, kommen ohne Pauken und Prüfen aus. Der
Mentor animiert seine Schützlinge zu spielerischen Aufgaben, stellt
neugierige Fragen, und lässt sonst die Sinne ihre eigene Lektion
lernen – getreu dem Vorbild der Indianer, bei denen Kinder
ebenfalls im Spiel an die Natur herangeführt wurden.
Es gibt also
Hoffnung für ein glückliches Verwildern unserer Kinder. Ein
perfektes Biotop ist dafür nicht vonnöten. Ein Stück Brachland um
die Ecke reicht. Ein Schulhof etwa, der nicht TÜV-geprüft ist,
sondern sich selbst und den kreativen Ideen der Kinder überlassen
wird. Was Kinder benötigen, sind sinnliche Erfahrungen in Freiheit.
Nicht mehr, nicht weniger. Und so schwer wir es akzeptieren können:
Zu dieser Freiheit gehört auch ein bisschen Risiko, ein bisschen
echte Gefahr.
Zurück |